TwitterFacebookGoogleLinkedInYouTube

1. Meritokratie und Demokratie

»Osten ist Osten und Westen ist Westen« heißt es in Rudyard Kiplings Gedicht, doch heute sind die beiden miteinander verflochten.

Die gegensätzlichen Merkmale beider Zivilisationsräume sind allgemein bekannt: Autorität versus Freiheit, Gemeinschaft statt Individuum, der Kreislauf der Weltalter im Gegensatz zum historischen Fortschritt, representative Demokratie anstelle der Herrschaft einer Meritokratie wie dies in China der Fall ist. Andererseits weiß man auch, dass China mittlerweile die Fabrik der Welt und der größte Gläubiger der Vereinigten Staaten ist.

In unserem Buch befassen wir uns mit den beiden Räumen, über die Kipling schrieb, sie würden sich »niemals treffen«, in diesem neuen historischen Kontext, in dem China und der Westen so eng aneinander gebunden sind, aber dennoch so verschieden bleiben.

Heute, da der Westen seine Jahrhunderte währende Dominanz verliert und das Reich der Mitte wieder in der Weltgeschichte Fuß fasst, müssen wir das sich verändernde Gefüge nicht nur aus westlicher, sondern auch aus östlicher Sicht betrachten.

Überspitzt formuliert neigt man im modernen westlichen Denken dazu, unvereinbare Gegensätze zu sehen, die sich nur über die Dominanz des einen über das andere auflösen. In der Tradition Hegels wählte auch Francis Fukuyama diesen Ansatz, als er nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Triumph der liberalen Demokratie über andere Regierungsformen das »Ende der Geschichte « postulierte. Im geopolitischen Denken des Westens werden Territorien entweder gewonnen oder verloren.

Im Westen herrscht die weit verbreitete und auch nicht unbedingt falsche Ansicht, dass China mit seinem modernen Mandarinsystem und seiner offiziell kommunistischen Staatsform zwar beeindruckende Leistungen erbracht hat, wie etwa Hunderte Millionen Menschen in nur drei Jahrzehnten aus der Armut zu führen, aber nicht selbstkorrigierend und damit auch nicht zukunftsfähig ist. Die »rote Dynastie« muss ihren autokratischen Griff locker und eine freiere Meinungsäußerung und demokratischere Mechanismen für einen öffentlichen Diskurs zulassen

und für Rechenschaftspflicht in öffentlichen Ämtern sorgen, sonst droht ihr der politische Niedergang – in Form einer immer stärker um sich greifenden Korruption, willkürlichen Machtmissbrauchs und Stagnation –, wie ihn bereits vorangegangene Dynastien in der jahrtausendealten Geschichte Chinas erleben mussten.

Unserer möglicherweise überraschenden Beobachtung nach besitzt die westliche Demokratie, wie wir am Beispiel der Finanzmärkte gesehen haben, kein größeres Potenzial zur Selbstkorrektur als das chinesische System. Wie die Volksrepublik steuert auch die Demokratie mit ihrem Prinzip der Wahlgleichheit, die eingebettet ist in eine Konsumkultur der sofortigen Befriedigung, auf einen politischen Niedergang zu, es sei denn, sie schafft es, sich zu reformieren. Immerhin hat der demokratische Westen die Chance, aus Chinas Erfahrungen mit einem meritokratischen System zu lernen und kompetente Institutionen einzurichten, die sich sowohl Langfristigkeit als auch das Allgemeinwohl zum Ziel setzen. Wir werden darlegen, dass die Wiederherstellung des Gleichgewichts in jedem System eine Justierung des politischen Rahmens und die Schaffung einer Struktur erfordert, die eine kluge Demokratie mit einer rechenschaftspflichtigen Meritokratie kombiniert.

 

2. Auseinanderdriftens und Annäherung: Globalisierung 2.0

Die Herausforderungen durch die derzeitige globale Machtverschiebung sind in Kombination mit dem rasanten technischen Fortschritt für die aufstrebenden Volkswirtschaften nicht weniger beängstigend als für jene, deren Macht im Schwinden begriffen ist. Alle politischen Systeme geraten in gewisser Weise aus dem Gleichgewicht, wenn sie versuchen, sich den fortwährenden Erschütterungen anzupassen, die durch den Übergang von der Globalisierung 1.0 zur Globalisierung 2.0 verursacht werden.

In den Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Globalisierung unter Führung der USA – die Globalisierung 1.0 – die Welt durch den freien Fluss der Handelsströme, des Kapitals, der Informationen und Technologie so gründlich verändert, dass daraus eine weitere neue Phase entstanden ist – die Globalisierung 2.0.

»In den vergangenen Jahrhunderten entwickelten sich Europa und dann Amerika, die beide einst Peripherie waren, zum Zentrum der Weltwirtschaft«, schreibt der Wirtschaftsjournalist Martin Wolf von der Financial Times. »Jetzt bilden die Volkswirtschaften, die in dieser Zeit an der Peripherie lagen, erneut das Machtzentrum. Dadurch verändert sich die ganze Welt … Das ist bei Weitem das Wichtigste an unserer Welt.«3

Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Michael Spence vertritt eine ähnliche Sichtweise. Wir würden derzeit »zwei parallele und interagierende Revolutionen « erleben, schreibt er, »die Fortsetzung der Industriellen Revolution in den Industrieländern und die plötzliche und dramatische Verbreitung des Wachstums in den Entwicklungsländern. Man könnte die zweite Revolution die Einschließlichkeitsrevolution [im Original: »Inclusivness Revolution«] nennen. Nach zwei Jahrhunderten des raschen Auseinanderdriftens folgt nun die Annäherung.«4

Diese massive wirtschaftliche und technologische Annäherung infolge der Globalisierung 1.0 hat gleichzeitig eine neue kulturelle Verschiedenheit hervorgebracht, da sich die aufstrebenden Wirtschaftsmächte nun unter Berufung auf ihre eigene Kultur gegen die ohnehin schwindende westliche Hegemonie abgrenzen. Weil mit wirtschaftlicher Stärke eine kulturelle und politische Selbstbehauptung einhergeht, bedeutet die Globalisierung 2.0 vor allem die Verflechtung multipler Identitäten anstelle eines für alle gültigen Modells. Die einst dominierenden westlichen liberalen Demokratien müssen es auf der Weltbühne nun nicht nur mit der vom Neokonfuzianismus geprägten Volksrepublik China aufnehmen, sondern auch mit einer am Islam orientierten Demokratie im säkularen Rahmen der Türkei, die für die Demonstranten in der arabischen Welt ein attraktives Vorbild darstellt. Kurz gesagt, die Welt kehrt zum »normalen Pluralismus« zurück, der den Großteil der Menschheitsgeschichte prägte.

Historisch betrachtet zieht eine derart umfangreiche Machtverlagerung häufig Zusammenstöße und Konflikte nach sich. Doch aufgrund der intensiven Integration, die die erste Globalisierung seit Ende des Kalten Krieges mit sich brachte, bieten sich auch ganz neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und gegenseitigen Befruchtung über verschiedene Kulturen hinweg.

Wir stehen an einem historischen Scheideweg. Die Art und Weise, wie wir uns selbst in den kommenden Jahrzehnten als Nationen und darüber hinaus regieren und organisieren, wird über den weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts entscheiden.

 

3. Harmonismus

Eine intelligente Regierungsführung ist ein harmonisches Gleichgewicht bei allen menschlichen Angelegenheiten – ein Gleichgewicht zwischen Verantwortung und persönlicher Entscheidung, Gemeinschaft und dem Einzelnen, Freiheit und Stabilität, Wohlbefinden und Wohlstand, Mensch und Natur, Gegenwart und Zukunft – basierend auf dem Wissen darüber, welches bewährte System unter den gegebenen Umständen am besten funktionieren könnte.

Wir wissen, dass jeder allgemeine Ansatz, der sich aus neuen globalen Bedingungen ergibt, ganz pragmatisch die Vielfalt und verschiedenen Stufen der Entwicklung umfassen muss. Das geeignete Mittel für eine harmonische Zusammenarbeit ist die Kooperation, die verschiedene Wege umfasst, die zum selben Ziel führen, nicht die Uniformität eines einzigen Modells, bei dem alle im Gleichschritt marschieren müssen. Vom Einsturz des Turms zu Babel bis zur Auflösung der Sowjetunion lehrt uns die Geschichte, dass Vielfalt in der Natur des Menschen liegt.

Eine derartige Kooperation zum Vorteil aller ist heute wahrscheinlicher als an jedem anderen Punkt in der Geschichte der Menschheit. Es gibt die These, dass die Fähigkeit, Wissen über Kulturen hinweg zu teilen, die dank des »globalen Denkschaltkreises« unserer vernetzten Welt und der weltumspannenden Reichweite der Medien ermöglicht wird, mit einem »horizontalen Gentransfer« vergleichbar ist. Damit könnte eine Regierung, die nicht auf einer konkurrenzorientierten Hierarchie, sondern auf der Verbreitung von Wissen basiert, eine »Evolution der Evolution« darstellen.

Wenn die Menschheit überleben will, muss sie zusammenarbeiten. In Verbindung mit der Wissensexplosion in den Naturwissenschaften und der Informationsrevolution weckt diese Notwendigkeit die Hoffnung, dass unsere Spezies die primitive, konkurrenzorientierte Form der menschlichen Evolution – »Survival of the Fittest« – hinter sich lässt und stattdessen einen weniger konfliktreichen, intelligenteren und kooperativeren Weg wählt – das »Überleben der Klügsten«. Intelligentes Regieren ist in diesem Sinn die praktische Anwendung einer weiterentwickelten Weltsicht.

In einer Verbeugung vor der altehrwürdigen Tradition des Ostens könnte man diese Weltsicht Harmonismus nennen. Sie ist vielleicht die Alternative des 21. Jahrhunderts zur beschränkten Vorstellung von »Fortschritt«, die uns zwar fantastische Weiterentwicklungen gebracht, aber auch großen Schaden angerichtet hat – den Verlust der kulturellen Vielfalt, die Vernichtung von Menschenleben und die Zerstörung der Umwelt. Der Harmonismus scheut nicht die Zukunft, stellt sich aber auch kein Utopia an irgendeinem Endpunkt der Geschichte vor. Stattdessen strebt er konstant ein Gleichgewicht an.

4. ‚Intelligent regieren‘ in Aktion: G20

Der 21st Century Council schlug bei seinem Treffen im Mai 2012 in Mexico City für die G20 eine Mischform vor, mit der die Bereitstellung der globalen öffentlichen Güter weiterhin gewährleistet ist.

Gipfelvereinbarungen sind vor allem bei der Regulierung der Finanzmärkte, von grenzüberschreitenden Kapitalströmen und internationalen Rettungsschirmen sinnvoll.

Gleichzeitig sollte es eine starke und unabhängige »Überwachung« der Wirtschaft der G20-Staaten geben in Bezug auf Aktivitäten, die Ungleichgewichte befördern. Wir empfehlen daher die Einrichtung eines permanenten Sekretariats, das die Maßnahmen zwischen den Gipfeln umsetzt und ihre Kontinuität garantiert. Organisiert wird das Sekretariat von einer »Troika« bestehend aus dem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Vorsitzenden. Außerdem sollte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) um die den G20 angehörenden Schwellenländer erweitert werden. Zu den Aufgaben der G20/OECD würde eine neue Erfassung der Handelsströme gehören, die auch die weltweit verstreuten einzelnen Produktionsschritte berücksichtigt (wie bei der Herstellung des iPad, siehe Kapitel 4) sowie deren Auswirkungen auf Handel und Beschäftigung. Koordinierte globale Maßnahmen zur Beseitigung der Ungleichgewichte müssen auf einer objektiven, von allen anerkannten Analyse der Fakten basieren, um unnötige Spannungen und Konflikte zu vermeiden.

Im nächsten Schritt sollte ein Geflecht aus nationalen und subnationalen Netzwerken zur Bereitstellung der globalen öffentlichen Güter gefördert werden – etwa ein verminderter Zuwachs beim CO2-Ausstoß zur Eindämmung des Klimawandels. Die Bereitschaft dafür muss von unten kommen, von einer »Koalition der Willigen«, die gemeinsam daran arbeiten, die kritische Masse für einen globalen Wandel zu erreichen. Wie beim Treffen der G20 2012 in Mexiko, wo Präsident Calderón ein »grünes Wachstum« zum Thema machte, könnten Vereinbarungen wie der Mechanismus für eine umweltfreundliche Entwicklung (»Clean Development Mechanism«) aus dem Kyoto-Protokoll ausgebaut werden. Im Grunde handelt es sich dabei um eine »Warenbörse für Emissionsrechte «, die einen Handel zwischen nationalen und subnationalen Systemen ermöglicht, in denen es bereits eine Schadstoffgrenze und einen Handel mit den Rechten gibt oder die derartige Maßnahmen planen – darunter Kanada, Australien, Quebec sowie einige europäische Staaten und chinesische Provinzen. Die aus dem Handel resultierende Liquidität wird sicher andere veranlassen, sich anzuschließen.

Eine weitere Idee, die im 21st Century Council besprochen wurde, war eine Verbindung der R20, der Regions of Climate Action, mit den Zielen der G20 zur Eindämmung des Klimawandels. Den R20, die von Arnold Schwarzenegger in seiner Zeit als Gouverneur von Kalifornien gegründet wurden, geht es darum, dass sich Regionen für den Klimaschutz einsetzen. Zu den Mitgliedern zählen neben Kalifornien der indische Bundesstaat Gujarat, die südkoreanische Provinz Gyeonggi-do und Apulien in Italien. Die Idee dahinter ist, dass sich Regionen, selbst wenn der Kampf gegen den Klimawandel und der Einsatz für saubere Energien auf der Ebene der globalen Regierung oder der Nationalstaaten ins Stocken gerät, immer noch engagieren und eine kritische Masse aufbauen können, die einen Wandel von unten bewirkt.

Neben der Beratung der G20 widmet sich der 21st Century Council Projekten, bei denen er dank persönlicher Netzwerke und Beziehungen direkt Einfluss nehmen kann. Ein Beispiel ist Zheng Bijians Vorschlag, eine »Interessengemeinschaft « zwischen den USA und China aufzubauen, indem direkte Investitionen der chinesischen Uberschüsse in die Infrastruktur und in die Schaffung von Arbeitsplätzen in den USA gefördert werden – womit man elegant die Quadratur des Kreises bei Handel und Beschäftigung schafft und das Aufkommen protektionistischer Stimmungen eindämmt, da man zeigt, dass die Globalisierung den Menschen in den USA und in China Arbeit bringt.

Als Xi Jinping im Februar 2012 Kalifornien besuchte, schlug Gouverneur Jerry Brown sozusagen von einem »Prinzling« zum anderen vor (Browns Vater war ebenfalls Gouverneur; Xis Vater war ein ranghohes Politbüromitglied), dass China bei der Finanzierung des geplanten 90 Milliarden Dollar teuren Schnellzugsystems helfen und auch in »Plug and Play«-Industriegebiete* in den ärmeren, von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen Kaliforniens wie etwa Central Valley oder Riverside County investieren könnte.

Auch dieser Plan besitzt eine gewisse elegante Symmetrie. Als Brown Anfang der 1980er Jahre die Provinz Guangdong besuchte, kurz nach seinen beiden ersten Amtszeiten als Gouverneur, war Xi Jinpings Vater Xi Zhongxun sein Gastgeber, der damals Gouverneur von Guangdong war. Xi Senior, ein enger Vertrauter von Deng Xiaoping, war der Kopf hinter dem damals neuen Experiment einer »Sonderwirtschaftszone« in Shenzhen. Er bemühte sich um Investitionen aus den USA!

Der 21st Century Council konnte dank seiner Kontakte in Kalifornien über das Think Long Committee und seiner Verbindungen zur Leitung der China Investment Corporation und Zheng Bijian das Voranschreiten dieser Projekte erleichtern.

Das Projekt ist eines von vielen Beispielen dafür, wie eine Gruppe der »globalen Zivilgesellschaft«, etwa der 21st Century Council, zusammen mit Unternehmen und staatlichen Stellen dazu beitragen kann, die Widersprüche der derzeitigen Machtverschiebung zwischen Entfremdung und Annäherung ebenso aufzulösen wie zwischen dem Globalen und Lokalen.

Wendet man das Paradigma »Dezentralisierung, Beteiligung, geteilte Entscheidungsverantwortung« der intelligenten Regierung an, kann man die »primäre Legitimation « aufbauen, die die G20 zur Bewältigung der neuen globalen Herausforderungen benötigt.

Die Alternative wäre ein Machtvakuum, ein Auseinanderdriften und ein daraus resultierender zerstörerischer Konflikt. Daher sollte eine globale Regierung alles tun, um dafür zu sorgen, dass die Gegenwart mehr dem Jahr 1950 als dem Jahr 1910 ähnelt.